Der Schlaf in den Urnen – Tagebuch eines Ehemaligen
Filmbilder und Soundgefüge von Andreas Voß zu den Texten von Carsten Klook
Gewiss ist: Man wird den Film und die Texte beim ersten Sehen und Hören nicht verstehen. Unmöglich, in der lyrisch-philosophisch durchwogten Gedankenfülle der Klook’schen Miniaturen, über die sich die picture motions von Voß wie Blumen der Weissagung legen, sofort Überblick zu erlangen. Man muss den Film zweifellos mehrmals sehen, um die komplexe Konstruktion und den artistischen Witz, der darin steckt, zu erfassen. Bilder und Worte spielen mit dem Zuschauer Hase und Igel – und während man atemlos zuschaut, tröstet man sich über die eigene Wehrlosigkeit hinweg mit einem Wort von Adorno: „Der Wert eines Gedankens misst sich an seiner Distanz zum (...) Bekannten.“
Der französische Dichter Raymond Queneau stellte die Frage: „Welche Befriedigung kann man wohl empfinden, wenn man etwas nicht versteht?“ Und in Chris Markers „Sans Soleil“ gibt es einmal die Stelle, an der ein "Verstehensprozess" angesprochen wird: „Nichts zu verstehen“, so heißt es, „erhöht den Genuss.“ Ein europäischer Mensch berichtet von seiner Begegnung mit dem japanischen TV-Programm: „Je länger man das japanische Fernsehen betrachtet, umso mehr hat man das Gefühl, von ihm betrachtet zu werden.“ Auf Klook/Voß übertragen bedeutet das: Je länger wir den Texten zuhören, umso mehr sprechen sie zu uns, und je länger man die Filmbilder betrachtet, umso mehr schauen sie uns an.
„Der Schlaf in den Urnen“ ist eine Annäherung an den Prozess des Verstehens und des Erinnerns, und diese Annäherung handelt auch vom Aushalten der Lücken des Nicht-Verstehens und des Nicht-Erinnerns. In diesen Lücken findet der Hörspielfilm statt.
Nähern wir uns Text und Film also mit Fragen: Was gibt es eigentlich zu sehen? Was ist zu hören? Schaut man nicht – schon zu Beginn mit schläfrigen Lidern – in eine industrielle Giftküche? Ja schon, aber die schweren Lider erweisen sich als filmische Auf- und Abblenden; es sind nicht die zufallenden Augenlider des Zuschauers.
Liest die Stimme aus dem Off wirklich aus einem Tagebuch? Schließlich sind die Datumseinträge eine konstante rhetorische Figur in „Der Schlaf in den Urnen“. Aber wie kann es sein, dass diese Einträge im „Tagebuch eines Ehemaligen“ in der Zukunft liegen? Stammen sie gar aus einer ganz anderen Welt? Was liegt im Zentrum dieses Hör-Spiel-Films? Liegt nicht in dessen Fokus – wie die Pupille im Auge – die Leere, das Nichts? Weil sich Zukunft und Vergangenheit, gleichsam einer mathematischen Plus-Minus-Operation, gegenseitig auslöschen?
Was die gesprochenen Texte transportieren, stellt das Handlungs- oder Assoziationsgerüst des Films dar. Was zu sehen und was zu hören ist, das legt parallel verlaufende Spuren. Bilder und Texte funktionieren wie Brotkrümel und Hänsel-und-Gretel-Wald, wie Ariadnefaden und Labyrinth.
Aber das will erst durchschaut werden. Mit seinem Alternieren von direkter und indirekter Rede, dem Wechsel von Erzähltempi und den Perspektivverschiebungen und zeitlichen Brüchen verwirrt Klook den durch die Voß’sche exzessive Bildmontage ohnehin schon desorientierten Zuschauer und -hörer. Das Text-Film-Konstrukt verweigert gerade das, was man von ihm erwartet: Sinnstiftung, den ordnenden Eingriff der Sprache in die assoziativ montierten Bilder. Das „zu Schauende“ verwaltet nicht die Themen, sondern bringt sie zum Schweben. Die Sprache ist hier nicht Kommentar wie im Dokumentarfilm oder Fernsehfilm. Die Bilder sind keine Beweisstücke für „Aussagen“ oder „Handlung“, sondern etwas Drittes, nicht die Summe von Bild und Sprache, sondern sinnlich wahrnehmbare Ereignisse. Aus dem Phänomen der Interferenz von Bildern und Sätzen entsteht neben dem Sichtbaren das Unsichtbare, neben dem Hörbaren das Unhörbare.
„Der Schlaf in den Urnen“ ist ein "Erinnerungsauslöser". Das Sortieren, Bearbeiten, Verfremden der gesuchten oder gefundenen, auf jeden Fall gesammelten Vergangenheits- und Gegenwartsbilder ordnet den Film, ist sein Sinn stiftender Teil, wird aber auch selbst zum Gegenstand der (Selbst-) Reflexion. Naturalistische Dokumentaraufnahmen werden mit Farbwerten geflutet. Die Konturen des Dargestellten fransen aus, verschwimmen, verformen sich. Die auf diese Weise organisierten Bilder werden unterbrochen von Musiksplittern und Soundscapes. Sie sind gleichsam die Nadeln, mit denen die Insekten im Schaukasten fixiert sind – der Zeit entflogen…
Das „Tagebuch eines Ehemaligen“ ist eine manische Sammlung eines Schreibenden, eines Sehenden, eines Hörenden, eines Träumenden – den Bildern verfallen. In anderen Worten: Ein Abdrift, eine seitliche Suchbewegung. Bilder denken, Gedanken sehen. Was der Film in Bewegung bringt, ist die Verzweigung von Gefühl und Verstand. Er könnte die Skizze eines Films sein, den es nie geben wird …
Andreas Voß
Laufzeit: 55:03 Minuten
10.- Euro